Cover
Titel
Stalin's Library. A Dictator and his Books


Autor(en)
Roberts, Geoffrey
Erschienen
Anzahl Seiten
259 S.
Preis
$ 30.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Immo Rebitschek, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Stalin-Biographik ist ein Genre der Osteuropäischen Geschichte, das noch immer wächst. Geoffrey Roberts legt nun ein Stück Biographie nach, das in eine bekannte Kerbe dieses Formats schlägt: eine Geschichte des „intellektuellen Stalin“. Der Diktator war ein Schüler und (für manche) ein Lehrer des Marxismus-Leninismus. Er pflegte ein instrumentelles Verhältnis zu diesem Kanon, fügte sich selbst hinzu und ließ sich auf Ideen Dritter soweit ein, wie er sie politisch nutzen konnte.1 Roberts gräbt tiefer als andere und zieht einen vernachlässigten Quellenbestand heran, um Stalin als „Intellektuellen“ zur portraitieren: dessen persönliche Bibliothek. Circa 25.000 Bücher werden heute dieser Bibliothek zugerechnet. Über zahlreiche Institutionen verstreut ist ein Teil der Sammlung, und doch gelingt Roberts mit Lektürelisten und Unterlagen des persönlichen Archivbestands Stalins eine detaillierte bibliographische Rekonstruktion dessen, was Stalin zu seinen Lebzeiten vermeintlich gelesen, ausgeliehen, kommentiert und selbst geschrieben hat.

Roberts hat diese Sammlung nicht entdeckt, noch ist die Vorstellung sonderlich neu, dass Stalin intellektuelle Kapazitäten besaß. Er nimmt sie eher zum Anlass, um einen bekannten Standpunkt nochmals zu stärken: dass Stalin intellektuelle und ideologische Positionen bezog und auch weiterentwickelte, und dass seine Lesegewohnheiten ebenso wie das eigene opus bedeutende politische Entscheidungen des Diktators beeinflussten und erklärbar machten. Stalin sei primär Bolschewik, und erst in zweiter Reihe Intellektueller gewesen. Nichtsdestoweniger dürfe man nicht unterschätzen, so Roberts, wie konsequent sich Stalin in den Gedankengebäuden des Marxismus bewegte. Er habe sie als Marxist und als Leninist modelliert und die Umstände seiner Zeit (und die Bedrohungen) darüber erschlossen. Diese These ist nicht spektakulär und soll vor allem die Benutzung des Quellenbestandes rechtfertigen.

Die erste Hälfte des Buches hilft zu verstehen, welche Bedeutung Bücher für den Diktator im Laufe seines Lebens hatten. Stalin sei durch die intellektuellen Verwerfungen innerhalb der russischen und georgischen Sozialdemokratie geprägt worden. Die Ausbildung als Priesterseminarist und die Lesekultur der Berufsrevolutionäre bestärkten den „Bücherwurm“ (S. 6) darin, welche „transformative Kraft“ (S. 8) im gedruckten Wort steckte. Konsequent konsumierte er nicht nur das marxistische (und später auch Leninsche Curriculum), sondern machte es sich als Werkzeug zu eigen. Mehr noch: Er begann frühzeitig damit, die eigene Biographie im sozialistischen Kanon und der Geschichte der Revolution zu verankern. Stalin habe sich selbst historisiert, nicht einfach um den Personenkult zu füttern, sondern sein Denken als logische Fortführung des Lehrmeisters Lenin zu präsentieren. Dazu gehörte auch, das eigene Werk mit Blick auf die zahlreichen politischen Kurskorrekturen der 1920er- und 1930er-Jahre zu glätten, was aber Stalin selbst meist gar nicht mehr besorgen musste. Gerade die Korrespondenz zwischen dem Marx-Engels-Lenin-Instituts und Stalin über die Edition seiner Schriften gehört zu den lesenswerten Forschungsleistungen Roberts.

So geringfügig der Diktator in die Texte selbst nachträglich eingriff, so sehr war er an einem konsistenten Bild interessiert, was wiederum Roberts eigentliches Argument unterstreicht: dass der „bolschewistische Intellektuelle“ Stalin (S. 46) nicht nur als Parteisoldat taktierte, sondern Zeit seines Lebens ideologische Positionen bezog, verteidigte und Richtungsentscheidungen der Bolschewiki prägte. Dazu wird nochmals Altbekanntes rekapituliert: Stalins Beitrag für die sowjetische Nationalitätenpolitik, seine anfängliche Unterstützung der NEP oder wie er die Staatsgewalt eher rationalisieren als überwinden wollte.2 Dabei geht es Roberts weniger um die Suche nach einer stringenten ideologischen Linie als vielmehr darum, das Bild vom farblosen, mittelmäßig talentierten Funktionär der zweiten Reihe zu konterkarieren. Dieses hat für sich genommen in der Forschung keine Bedeutung mehr, aber es steht dem „intellektuellen Stalin“ in der breiteren Öffentlichkeit weiterhin im Weg.

Im zweiten Teil des Buches führt uns Roberts durch die eigentliche Bibliothek und damit die Substanz von Stalins Geistesleben. Dazu gehört auch eine packende Überlieferungsgeschichte. Wir erfahren, wie Stalin Bücher sammelte, las, verlieh, über Bücher sprach und sein ganzes Umfeld mit seinen Lesegewohnheiten (und -empfehlungen) beeinflusste. Schon in den 1920er-Jahren instruierte er Bibliothekar:innen, seine Sammlung zu katalogisieren. Sie sollte das Menschheitswissen umfänglich abbilden und spannte sich über sämtliche Wissenschaftszweige, wobei ein ungefährer Fokus auf Wirtschaft, Philosophie, Gesellschaft und Militär erkennbar war. AutorInnen marxistischer Tradition gehörten ebenso dazu wie belletristische Klassiker der russischen und Weltliteratur (insofern sie übersetzt waren). Ob Stalin, wie Roberts annimmt, diese Bibliothek nur als geistiges Werkzeug anlegen ließ und sich dabei nicht auch aktiv inszenierte, kann bezweifelt werden.

Zu den eigentlichen Quellenfunden gehören die zahllosen Anmerkungen (pometki), die Stalin in seinen Büchern hinterlassen hatte. Hier differenziert Roberts umsichtig, in welchem Ausmaß Stalin mit seinem Lesestoff interagiert haben könnte, und was wir uns davon versprechen dürfen: keine Überraschungen, aber ein Eindruck vom „spontanen Stalin“ (S. 15), wie er sich mit Themen auseinandersetzte, ohne sie Dritten zu vermitteln. Dass dieser sich keinesfalls einseitig mit den Schriften seiner politischen Gegner auseinandersetzte, mag im Fach selbst niemanden überraschen. Es belegt dennoch, dass der Leser Stalin – anders als der Parteichef – ideologische Positionen bei Freund und Feind ernsthaft differenzierte und Ernst nahm. Trotzki war als Volksfeind verfemt, aber Stalin zog immer wieder Inspiration aus dessen Schriften. Stalin war qua Sozialisation von den Verschwörungen gegen sich überzeugt.3 Er habe die Schauprozesse und die erpressten Geständnisse seiner Verschwörer aber nicht beim Wort genommen. Einerseits sind das valide Punkte, andererseits sind die pometki für derlei Befunde eher überflüssig beziehungsweise werden von Roberts gar nicht erst als Belege herangezogen.

Stalins pometki deuteten darauf hin, dass er sich in manche Themen intensiver oder auch häufiger einarbeitete als andere, was Roberts zum Anlass nimmt, Anekdoten und Quellenhinweise zusammenzutragen, die Stalins Haltung zu diesen Fragen illustrieren. Der Diktator habe beispielsweise immer wieder Historiker darauf gedrängt, bei allem Klassenbewusstsein die Zugkraft historischer Persönlichkeiten nicht außer Acht zu lassen. Passend dazu thematisiert Roberts, dass Stalin großes Interesse an Robert Vippers Geschichte des Römischen Reiches gehabt haben mochte. Die Markierungen im Buch stammen nicht von ihm, heben aber Sulla und Julius Caesar hervor. Stalins Kommentare in Werken der Diplomatiegeschichte ziehen eine kurze Abhandlung über den Diplomaten Stalin nach sich. Roberts ist umsichtig und zieht keine direkten Verbindungen zwischen Lektüre und Standpunkt. Zugleich bleibt das ganze restliche Buch damit eine Sammlung intellektueller Eingebungen Stalins. Beinahe jedes Thema, zu dem er inhaltlich in Gesprächen oder Sitzungen oder in eigenen Texten Position bezogen hatte, gleicht Roberts mit den Kommentaren und Beständen in seiner Bibliothek ab. Im Ergebnis hilft die Bibliothek letztlich nur bei der Illustration bekannter Deutungen. Stalins Russozentrismus, seine Faszination für Ivan IV. aber auch seine Sympathien für den Genetiker Trofim Lyssenko spiegeln sich entweder in der Lektüreliste oder gehören eben zum geistesgeschichtlichen Mosaik. Roberts sucht nicht nach verbindenden Themen. Er führt vielmehr aufwendig den Nachweis darüber, wie der Diktator komplexe Inhalte simplifizierte und auch für politische Zwecke nutzbar machte. Der Befund ist schlüssig, aber wer das Buch liest, bleibt frustriert mit einem Puzzle aus Anekdoten zurück, für die es Stalins Bibliothek nie gebraucht hätte.

Manche Exkurse (wie über Stalins Filmgeschmack) bleiben völlig ohne Interpretation, andere – wie über Stalins Beitrag zum marxistisch-leninistischen Kanon – graben wiederum tief in der Forschungsdiskussion, doch dadurch erschließt Roberts nur bedingt Neues. Stalin habe die relative Autonomie des sozialen Überbaus gegenüber der wirtschaftlichen Basis betont. Dies sei seine „distinctive contribution to Marxist philosophy“ (S. 196). Doch sowohl dieser Standpunkt als auch die Kontroverse sind so alt wie der Historische Materialismus selbst.4 Was bleibt, ist ein über zweihundert Seiten langer und schwer konsumierbarer Debattenbeitrag zur intellektuellen Agency Stalins. Dieser Beitrag vertieft bekannte Facetten in der Biographie Stalins, fügt ihr aber wenig Neues hinzu.

Anmerkungen:
1 Ronald Grigor Suny, Stalin. Passage to Revolution, Princeton 2020.
2 Robert Tucker, Stalin as a Revolutionary: 1879–1929. A Study in History and Personality, New York 1973.
3 Stephen Kotkin, Waiting for Hitler, 1929–1941, New York 2017.
4 Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Zerfall. Erster Band, Zürich 1980.